Conrad von Rappard und das Engell‘sche mikroskopische Institut in Wabern – eine Spurensuche

Wer kann sich heute noch vorstellen, dass sich am Standort der heutigen Sprachheilschule an der Eichholzstrasse in Wabern um 1870 ein römisch-irisches Bad befand – und dass zuvor dort ein mikroskopisches Institut mit internationaler Ausstrahlung betrieben wurde?
Der Betreiber des Instituts, der westfälische Adlige Conrad von Rappard, war Jurist, Dichter und Naturwissenschaftler, politischer Abgeordneter und später auch Hotelier, und Wabern war während ein paar Jahren seine Heimat. Den Lebenspuren dieses vielseitigen Mannes und seinem Wirken in Wabern soll im Folgenden nachgegangen werden.

Im Könizer Taufrodel von 1857 ist unter «Ausburger» (damit waren Personen gemeint, die nicht zu den alteingesessenen Familien gehörten) der folgende Eintrag zu finden:

«[...] den 19. August getauft eine eheliche Clara Julia Elisa geboren d. 19. Mai
Eltern: H. Conrad von Rappard, Conrad Gerhards Sohn, von Unna, Kgr. Preussen, zu Wabern wohnhaft.
Albertine Friederike Charlotte Caroline Engell, Joachim Christophs Tochter von Sülz
Copulirt zu Freiburg in der Schweiz, in der reformierten Kirche, den 28. Juni 1856.
Zeugen: Anwesende:
Julia Engell Günther aus Piraciaba in Brasilien
Elisa Stämpfli, des H. Bundesraths Gattin, aus Bern
Conrad von Rappard, aus Berlin.»
Neben diesen anwesenden Zeugen werden auch zwanzig abwesende Zeugen aufgeführt – aus Bern, Freiburg und Zürich, aber auch von weit weg, etwa Mecklenburg, Preussen oder New York.

Clara war das einzige Kind Conrad von Rappards und seiner zweiten Frau Albertine Engell. Sie sollte zu einer hervorragenden Freilichtmalerin heranwachsen, die zu Lebzeiten – sie starb bereits 1912 – als bedeutendste Malerin der Schweiz galt.

Wie war es dazu gekommen, dass Claras Eltern in den 1850er Jahren in Wabern lebten?

Conrad von Rappard wurde am 19.8.1805 in Unna bei Königsborn in Westfalen geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus der Schweiz, aus Rapperswil. 1791 wurde sie in den preussischen Adelsstand erhoben. Durch seinen Grossvater, dem ein Salzbergwerk gehörte, kam Conrad früh mit dem Bergbau in Berührung, und die Freundschaft Alexanders von Humboldt mit seinem Vater erweckte in dem Jungen das Interesse für Naturwissenschaft. Im Winter 1824/5 nahm er in Bonn das juristische Studium auf und war nach dem Abschluss als Richter tätig. Sein Hauptinteresse scheint aber schon bald einmal eher dem Bergbau gegolten zu haben: er betrieb nach 1839 die ersten Braunkohlenbergwerke in der Ostbrandenburg und wurde als Besitzer oder Teilhaber zahlreicher Kohlengruben rasch zum Unternehmer. Als einige dieser Gruben verstaatlicht wurden, kaufte er sich von der Entschädigung zwei Rittergüter und lebte mit seiner Familie – er hatte 1838 Fanny Richter, die Tochter eines Försters, geheiratet – auf Glambeck in der Uckermark, dem einen von ihnen. Wegen seiner für einen Gutsherrn sehr liberalen Haltung seinen Untergebenen gegenüber ist ihm im Dorfmuseum eine eigene kleine Ausstellung gewidmet.

Abbildung 1 Conrad Portrait
Porträt Conrad von Rappard (um 1878)

Den äusserst umtriebigen Mann scheinen der Richterberuf, die Bewirtschaftung seiner Güter und die Förderung der Industrialisierung der Mark, ganz zu schweigen vom Familienleben mit seiner Gattin und den drei Söhnen, noch nicht ausgefüllt zu haben. Er war ausserdem unter dem Vereinsnamen Robert Burns Mitglied der Berliner Dichtervereinigung «Tunnel über der Spree», der u.a. auch Theodor Fontane angehörte, und schrieb Gedichte und fertigte Übersetzungen an.

1848 wurde der bis anhin eher Unpolitische als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er gehörte der gemässigten linken Fraktion Westendhall an und war zuletzt Mitglied des Stuttgarter Rumpfparlaments. Nach dem Scheitern der Revolution 1849 wurde er wegen hochverräterischer Umtriebe polizeilich gesucht, konnte sich aber nach einer abenteuerlichen Flucht über England in die Schweiz retten. Im Kanton Zürich lebte der Verfolgte anfangs an immer wechselnden Adressen, bis er auf seinen Freund Heinrich Simon traf, der ebenfalls im Frankfurter Parlament gewesen war, und mit ihm zusammen das Gut Mariafeld in Meilen kaufte. Nach nur etwa einem Jahr verkauften die beiden das Gut wieder und Rappard ging nach Zürich. Dort begründete er 1851 ein mikroskopisches Institut, unter Beteiligung des aus Bayreuth stammenden, seit 1839 im Kanton Zürich eingebürgerten Naturwissenschaftlers August Menzel. Dieser fungierte auch gleich als Namensgeber des Instituts: «A. Menzel & Comp.» Möglicherweise blieb der Compagnon Rappard ungenannt, weil er als politisch Verfolgter ohne gültige Heimatpapiere keine Firma gründen konnte.

Wie es zur Entstehung des Instituts kam, schilderte Ludwig Simon (1819-1872), ein weiterer, mit Rappard befreundeter und in die Schweiz geflüchteter Abgeordneter der Nationalversammlung, in seinen Erinnerungen so:

Rappard beschäftigte sich damals mit einem eigenthümlichen Plane, den er später auch wirklich zur Ausführung brachte. Als vermöglicher Rittergutsbesitzer hatte er sich in seinen Mußestunden viel mit dem Mikroscope beschäftigt, auch wohl unter demselben einzelne Objecte aus dem Thier- und Pflanzenreiche zwischen Glasplättchen der Art einbalsamirt, daß man, indem man diese Präparate unter dem Mikroscope betrachtete, der Natur bis in ihr innerstes Getriebe hineinsehen konnte. Jetzt, nachdem er den größten Theil seines Vermögens durch die Reaction verloren hatte, beschloß er, durch Verfertigung solcher mikroscopischer Präparate sich einen neuen Erwerbszweig zu gründen. Außer seinem persönlichen Vortheile hoffte er dadurch das Studium der Naturwissenschaften zu befördern, auf welche die politisch gescheiterte Bewegung sich mit vertieftem Eifer geworfen hatte, und von deren befreiender Wirkung er Großes erwartete. In Berlin hatte er eine junge Dame kennen gelernt, welche sich [...] gerade mit ähnlichen Arbeiten beschäftigte und dabei eine außergewöhnliche Geschicklichkeit an [den] Tag legte. Diese Dame zog aus dem Nachlasse ihres verstorbenen Mannes heraus, was ihr geblieben war, und verband sich mit Rappard zur Gründung eines mikroscopischen Institutes in Zürich, welches alsbald seine sauberen Präparate auf den ganzen Continent und selbst bis nach America versenden sollte.
[Aus dem Exil, Band I, 1855. S. 158ff.]

Interessanterweise wird der Name Menzel hier gar nicht genannt, und dass es sich bei der Dame um Louise von Trendelenburg, geborene Engell handelt, eine Schwester von Rappards nachmaliger zweiter Frau Albertine, wird auch erst später klar.

Bereits 1852 zog sich August Menzel von dem gemeinsamen Institut zurück und nahm eine Stelle als Lehrer der Naturgeschichte am Gymnasium und der Industrieschule an. Das mag den Ausschlag dafür gegeben haben, dass Rappard Zürich verliess und sich nach Paris begab, wo er Kontakte mit Forschern gepflegt und in Naturwissenschaft doktoriert haben soll. In einem Brief aus Paris vom Juni 1852 an Oswald Heer, Ordinarius für Botanik an der Universität Zürich, bittet Rappard, man möge Korrespondenz für ihn an Mademoiselle Albertine Engell in Paris geschickt werden.

Abbildung 2 Brief Rappard an Heer
Ausschnitt aus einem Brief Conrad von Rappards an Oswald Heer, 18. Juni 1852

Seine zunehmende politische Radikalisierung und die politische Verfolgung und Flucht hatten zu einer zunehmenden Entfremdung von seiner ersten Frau Fanny geführt, die sich weigerte ihm mit den Söhnen in die Schweiz nachzureisen. Am 15. Oktober 1855 wurde in Berlin die Scheidung rechtskräftig, und am 28. Juni 1856 heirateten Conrad von Rappard und Albertine Engell in der reformierten Kirche Freiburg – im Kanton Bern war ihm die Erlaubnis zur Wiederverheiratung nicht erteilt worden. Auch die Einbürgerung in der Schweiz konnte Rappard nicht in seinem Wohnkanton Bern erlangen. Sowohl Stalden bei Konolfingen wie auch Brienz hatten Rappard das Bürgerrecht zugesichert, aber als es im Regierungsrat zur Abstimmung kam, verfehlte er die erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln. Er wurde schliesslich 1858 Bürger von Gerlafingen im Kanton Solothurn. Aus dem Solothurner Ratsprotokoll lässt sich entnehmen, dass auch da nicht alle einverstanden waren, dass man „jeden beliebigen Fremden“ aufnehme und so «der Zufluchtsort aller Deutschen» werde. Im Kanton Bern nahmen dem deutschen Flüchtling gewisse Kreise offenbar übel, dass er eine rege unternehmerische Tätigkeit entfaltete und damit auch erfolgreich war. Sein späterer Wohnsitz am kleinen Rugen in Interlaken, wo auch sein jüngerer Bruder Hermann eine Zeit lang wohnte (vorher hatte ihm der Landsitz Selhofen bei Kehrsatz gehört) wurde im Volksmund bald «Preussenhubel» genannt.

Nachdem er sich beim Mikroskopieren ein Augenleiden zugezogen hatte, machte Rappard einen Erholungsurlaub am Giessbach. Als er erfuhr, dass die Erben des Brienzer Schulmeisters Kehrli, der die Giessbachfälle den ersten Fremden erschlossen hatte, das Land abholzen und verkaufen wollten, erwarb er 1854 das Gelände und liess ein neues grosses Hotel errichten. Zur Gestaltung der Garten- und Parkanlagen holte er den Stuttgarter Landschaftsgärtner Eduard Schmidlin herbei, der auch die Verwaltung übernahm und den Giessbach bald berühmt machte.

Abbildung 3 Giessbach Hotel Stich Dikenmann ca 1860Hotel Giessbach um 1860 (R. Dikenmann)

Im Februar 1856 reichte Rappard beim Bund ein Konzessionsbegehren um Bau und Betrieb einer sogenannten schwimmenden Eisenbahn zwischen Biel und Yverdon ein. Gegen den Erhalt der Konzession erklärte er sich bereit zehn Millionen Franken an die Juragewässerkorrektion zu bezahlen. Der Vorschlag wurde mit grossem Interesse aufgenommen, aber schliesslich zog man doch eine staatliche Lösung einer mit einem ausländischen privaten Investor vor.

Bereits Anfang 1853 hatte Rappard den Sitz seines mikroskopischen Instituts nach Wabern verlegt, und zwar in eines der Albertine von Fellenberg gehörenden Häuser, und betrieb es, wie schon zuletzt in Zürich, als das Engell‘sche Institut. Die Gattin Albertine half offenbar bei der stetig zunehmenden Arbeit im Institut fleissig mit, aber es ist wohl nicht verwunderlich, dass in zeitgenössischen Erwähnungen wie selbstverständlich davon ausgegangen wurde, es handle sich bei Engell & Comp. um zwei Herren.

Eine ausführliche Schilderung des Instituts findet sich 1861 in einer Ausgabe der Zeitschrift Neues Frankfurter Museum:

Ein Zimmer mit ¼ Million der schönsten Bilder.

Dieser Titel mag etwas sonderbar klingen, aber er hat doch seine Berechtigung. Das Zimmer befindet sich in einem einfach schönen Hause des idyllisch gelegenen Wabern bei Bern: es ist das Atelier des berühmten mikroskopischen Institutes von Engel und Comp., aus dem schon seit Jahren Tausende und Tausende der vorzüglichsten mikroskopischen Objekte nach allen Theilen der gebildeten Welt versendet wurden; dem Männer wie Ehrenberg, Escher von d. Lindh, Heer, Mousson, Oken, Vogt etc. ehrenvolle Anerkennung zollten, dem sie theilweise ihre wissenschaftlichen Kräfte widmeten.
Nach Wabern kommend, fand ich den Begründer und Besitzer des Institutes, Herrn Conrad von Rappard, vor Kurzem angelangt von einer Entdeckungsreise nach neuen und merkwürdigen Gebilden für seine Objecte. Namentlich hatte er die italienischen, englischen und französischen Küsten des Mittelmeers bereist; war mit Taucherglocken in die Tiefen des Meeres, mit Stricken und Leitern an die Wände und auf die Höhen der umbrausten Felsen gestiegen und hatte dort, wie aus dem Meerwasser selbst, viel bedeutsames für seine – eine neue Welt umfassende – Sammlungen gewonnen. Er hatte mit vielen anderen Forschern und Sammlern Verbindungen für Einsendung neuer Funde angeknüpft und von einigen großen Museen reiche und seltene Stoffe zu Präparationen erhalten. Er lebte und webte mit rührender Liebe und Freude, mit bewundernswerthem Ernst und Fleiß in dieser ferner Welt und erschloß sie mit liebenswürdiger und rasch orientirender Belehrung. [...]
In dem Atelier des Institutes waren – unter specieller Anleitung des Directors – für die meisten und nicht allzuschwierigen Objecte Frauenhände tätig. Dies könnte ein Wink sein für sonst gut geartete Frauenzimmer, die aber aus Langeweile, verschrobener Bildung und ungesunder Gefühligkeit sich in allen möglichen unnöthigen, fruchtlosen und immer ungesünder machenden Allotrias versuchen, sogar oft schlechte Verse und noch schlechtere Romane begehen; zuletzt aber könnte es auch ein Wink sein für solche fleißige und strebsame Mädchen und Frauen, die gerne noch eine besondere nützliche und anregende Thätigkeit haben, oder auch einen Theil ihres Unterhalts selbst verdienen möchten: diese würden gewiß, wenn sie es praktisch, gescheidt und consequent durchführten, ihre Rechnung dabei finden, und zwar immer mehr und mehr, je weiter Newtons Wort zur Wahrheit, je mehr der Menschen Sinn der Natur zugewandt, je mehr diese demselben erschlossen würde. Es würde dann Tausende von Zimmern geben, in denen zwar nicht ¼ Million, doch viele hundert der schönsten Bilder versammelt wären.
Arnold Schluenbach.

Das Institut stellte Serien von Präparaten zum Mikroskopieren zu Hause zusammen, die es mit kommentierten Heften verschickte und es produzierte auch einfache, sogenannte Salonmikroskope, von denen einige wenige heute noch erhalten sind, zum Beispiel im Science Museum in London.

Abbildung 4 Mikroskopische Praeparate
Präparate Engell Type Microscopes, London Science Museum


Abbildung 5 Engell Type Microscopes
Engell Type Microscopes, London Science Museum

Es ist unklar, bis wann das Institut in Wabern in Betrieb war, Conrad von Rappard hatte sich ja bereits Mitte der 1850er Jahre im Berner Oberland niedergelassen, nach dem Verkauf des Giessbachs 1858 hatte er am Rugen bei Interlaken die Pension Jungfraublick erworben und zum grossen Hotel umbauen lassen. Daneben errichtete er eine Molkenkuranstalt mit einer Trinkhalle, deren 150jähriges Bestehen 2013 gefeiert wurde. Offenbar lebten Rappards Eltern noch länger in Wabern, denn im Februar 1862 war in der Gazette de Lausanne zu lesen, das Ehepaar von Rappard habe in Wabern seinen 60. Hochzeitstag feiern können.

Seine frühere Tätigkeit im Bergbau vergass Conrad von Rappard auch in der Schweiz nicht: Er soll den Steinbruch in Ostermundigen in Arbeit genommen haben, wollte in St. Gallen Braunkohle abbauen und befasste sich mit den Torfvorkommen im Seeland, wie der Publikation «Torf-Verwerthungen in Europa» aus dem Jahr 1861 zu entnehmen ist:

Auf Anregung des Herrn von Rappard in Wabern bei Bern hat sich in der Schweiz eine Actien-Gesellschaft unter den hervorragendsten Kapitalisten und der obersten Bundesbehörde gebildet, die mit großen Kapitalien ein Torfmoor in der Nähe des Bieler See in Angriff genommen hat und den Torf nach der Weber‘schen Methode verarbeiten will. Die Gesellschaft legt mit großer Rüstigkeit alles Nothwendige an, um im ersten Frühjahr 1861 mit der Arbeit beginnen zu können. [...] Nach den Angaben, die Herr von Rappard die Güte hatte mir über diese Anlage und die Art und Weise, wie sie verwaltet wird, zu machen, zweifle ich nicht daran, daß diese Fabrik eine sehr gute Rente geben wird.

Neben all diesen Aktivitäten führte er in seiner Villa Rappard am Rugen ein sehr gastliches Haus, in dem vor allem in den Sommermonaten Kunstschaffende, Intellektuelle und Industrielle verkehrten und wo die Tochter Clara in einem äusserst anregenden Umfeld aufwuchs und ihre künstlerische und menschliche Prägung erfuhr.

Die Familie verbrachte vor allem die Sommermonate in Interlaken, im Winter hielten sich sich in verschiedenen europäischen Städten auf.

Am 8. Juni 1881 starb Conrad von Rappard im 76. Altersjahr. Eine Fotografie von Carl Gölz, Interlaken, zeigt ihn in seinen letzten Lebensjahren.

Abbildung 6 Conrad von Rappard Foto Goelz Interlaken
Fotografie Conrad von Rappard

Seine Grabstätte ist noch heute im Rugenwald zu sehen: ein wenig versteckt stehen im Wald zwei Grabsteine, einer für ihn und für die Tochter Clara – und daneben einer nur für ihn allein.

Abbildung 7 Grab Conrad und Clara von Rappard
Grabstätte Conrad und Clara von Rappard, Rugen bei Interlaken

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